Wie jedes Jahr möchte ich mich bei euch, die meinen Blog verfolgen, mit einer Adventsgeschichte von Friederike Costa bedanken und euch fürs kommende Jahr nur das Beste wünschen.
Maikes Freund, der Nikolaus
Wir zogen von Hamburg nach Berlin. Die Wohnung, die wir auf die Schnelle gefunden hatten, lag in einem Mietshaus mit zwölf Parteien und gefiel uns gar nicht. Ich fand sie heruntergekommen und schäbig und war auch nicht bereit, mich hier auf längere Dauer einzurichten. Ich hing die alten Vorhänge auf, die zu kurz waren, nagelte kein einziges Bild an die Wand und gab mir auch keinerlei Mühe, die Leute im Haus kennenzulernen. Wir würden ja doch bald wieder ausziehen! Aber es wurde Sommer, es wurde Herbst, es wurde Dezember, und wir waren noch immer in dieser schrecklichen Wohnung.
Nur Maike, unsere damals sechsjährige Tochter, fühlte sich wohl und schloss sofort unzählige Freundschaften. Mit den russischen Aussiedlerkindern von unten, den zwei Studentinnen von nebenan, der ehemaligen Opernsängerin über uns, und mit einem jungen türkischen Mann, der, wie ich später erfuhr, seine Frau und seine kleine Tochter bei einem Autounglück verloren hatte und seitdem hier im Hause, bei seinem Bruder wohnte.
Aber all diese Freundschaften passten mir nicht. Ich hasste dieses Haus und verhielt mich engherzig gegen all seine Bewohner. Ganz besonders störte mich aber dieser Türke, denn ich verstand nicht, weshalb er sich ständig an Maike ‚heranmachte‘ und unterstellte ihm alle Schlechtigkeiten dieser Welt. Deshalb verbot ich meiner Tochter dann auch, mit diesem Mann zu reden oder irgendetwas von ihm anzunehmen.
Ich ahnte nicht, dass sich Maike nicht an das Verbot hielt, bis ich sie eines Tages mit diesem Mehmet auf den Treppen zum Keller in ein Gespräch versteift sitzen sah. Ich zerrte sie von ihm weg, nahm sie mit in die Wohnung und verlangte zu erfahren, was sie da eben mit ‚dem Kerl‘ geredet hatte.
Sie befreite sich aus meinem Griff und fuhr mich böse an, dass er ihr doch nur vom Heiligen Nikolaus erzählt hat, und dass der Heilige Nikolaus auch ein Türke war, aber dass das die deutschen Leute inzwischen vergessen haben. Und sie erzählte mir, dass Mehmet im selben Dorf geboren wurde, wie der Nikolaus, nämlich in Patara.
Da stand sie vor mir, sah mich an, hatte Tränen in den Augen und die Hände zu Fäusten geballt. Plötzlich schrie sie mich an: „Alle sind böse auf die Türken … und du auch!“ Und damit lief sie in ihr Zimmer.
Ich war sehr betroffen. Meine Tochter hatte mir da eben vorgeworfen, dass ich Vorurteile gegen Ausländer und im Speziellen gegen Türken hätte, und ich konnte ihr nicht einmal widersprechen. Irgendwie schämte ich mich plötzlich, aber zugeben wollte ich das in diesem Moment noch nicht, dazu war ich viel zu verbohrt. Und dass der Nikolaus ein Türke sein sollte, also, das hatte ich ja noch nie gehört!
Irgendwie ließ mir das nun aber keine Ruhe mehr. Ich fragte meinen Mann, doch der wusste auch nichts davon. Ich fragte meine Schwester, die zufällig anrief, aber auch sie hatte davon noch nie gehört. Schließlich ging ich in die Bücherei und las in einem Buch über unsere Heiligen nach und tatsächlich, da stand: Der Heilige Nikolaus, Bischof von Myra, Freund und Wohltäter der Kinder, wurde im 4.Jahrhundert n.Chr. in Patara, einem kleinen Bergdorf geboren, das in der heutigen Türkei liegt.
Na und, meinte mein Mann nur, als ich es ihm erzählte. Er verstand nicht, weshalb ich das alles so wichtig nahm, und eigentlich verstand ich es ja selbst nicht. Aber ich glaube, es war, weil mich diese ganze Geschichte zwang, mich von einer Seite zu betrachten, die mir bisher nicht bewusst gewesen war. Einen Türken, der im 4.Jahrhundert lebte, feierten und verehrten wir jedes Jahr, haben ihn sogar heiliggesprochen, und er ist für uns Symbol des Guten und der Liebe zu den Kindern. Aber einen jungen Mann, der sechzehnhundert Jahre später aus eben demselben Dorf kam, nahm ich seine Herkunft übel, so übel, dass ich ihn schnitt und ihm den Umgang mit meiner Tochter verbot. Was war nur los mit mir? Glaubte ich etwa, etwas Besseres zu sein?
Zwei Tage später war der 5.Dezember und Maike stellte vor dem Schlafengehen ganz aufgeregt ihre Stiefel vor die Tür. Anschließend brachte ich sie ins Bett, las ihr noch ein Märchen vor, deckte sie zu und küsste sie. Dann schlich ich mich leise hinaus und zur Wohnungstür, vor der Maikes Stiefel standen, die gefüllt werden mussten – denn wenn Maike auch nicht immer gefolgt hatte, so war sie doch ein braves Kind, das hatte ich inzwischen begriffen!
Ich öffnete vorsichtig die Tür und hätte vor Schreck beinahe laut aufgeschrien, als ich mich unvermutet Mehmet, dem Türken aus Patara gegenübersah. In seinen Händen hielt er eine kleine Puppe, die mit türkischer Tracht bekleidet war, und die er wohl gerade in Maikes Stiefel stecken wollte.
Er erschrak ebenso wie ich, als ich so plötzlich vor ihm stand, und auf seinem Gesicht stand das schlechte Gewissen so deutlich, wie ein drei Tage alter Bart. „Bitte nicht böse sein“, sagte er, und dann mit gesenktem Blick: „Ich weiß, Sie mögen mich nicht und haben vielleicht Angst, weil ich oft mit Maike zusammen bin. Aber wissen Sie, ich hatte auch eine kleine Tochter, so alt wie Maike, aber sie und meine Frau sind tot, verunglückt.“
Ich sagte nichts, ich war viel zu perplex und wohl auch beschämt. Da drückte er mir wortlos die Puppe in die Hand und lief die Treppe hinunter.
Als ich am nächsten Morgen in Maikes Zimmer kam, hatte sie die Stiefel längst hereingeholt. Vor ihr ausgebreitet lagen die Schätze, die der Nikolaus ihr dagelassen hatte: Obst, Schokolade, Buntstifte und eine Puppe, die mit türkischer Tracht bekleidet war. Sie hielt sie mir stolz entgegen, und ich bewunderte sie lächelnd. Es war ja auch wirklich eine ganz besonders schöne Puppe!
Noch am selben Tag begann ich Bilder in unserer Wohnung aufzuhängen. Ich kaufte Borten, um die Vorhänge zu verlängern und besorgte Tannenzweige zum Schmücken der Wohnung. Und ich beschloss, nun doch noch Plätzchen zu backen, obwohl ich tags zuvor behauptet hatte, die Küche sei dazu zu klein und zu unpraktisch. Ich hatte endlich begriffen, dass es an mir selbst lag, ob ich mich hier wohlfühlte oder nicht. Und als ich ein paar Tage später Mehmet auf der Treppe traf, nahm ich auch noch die letzte Hürde. Ich entschuldigte mich bei ihm für mein Misstrauen und lud ihn für den nächsten Sonntag zum Tee ein.
Inzwischen sind wir längst in eine größere und schönere Wohnung am anderen Ende der Stadt umgezogen. Aber Mehmet, seine zweite Frau und das Baby, die jetzt in unserer alten Wohnung leben, besuchen uns noch immer regelmäßig. Wir sind Freunde geworden … ja, ich glaube, das kann man so sagen.