Ein Einsatzroman einmal ganz anders

Kennen Sie Einsatzromane? Also, das hat nichts mit Einsatz zu tun. Gemeint ist ein ‚Roman‘, der nur aus einem Satz besteht. Ein endlos langer, nimmer endender Bandwurmsatz. Bei Amazon kann man in so einen Roman hineinlesen – falls es euch interessiert. Die Autorin heißt Caroline Günther.

Das ist sicher eine große Kunst, denn man muss den Faden behalten, was ja schon bei ganz normalen ‚Vielsatzromanen‘ nicht jedem leicht fällt. Doch mein Ding ist so ein Endlossatz nicht, weder als Autorin, noch als Leserin.

Auf unserer Inn-Radreise vom Maloja-Pass bis Passau (festgehalten in einem heiteren Reisebericht) kamen wir nach Kramsach in Tirol. Dort gibt es einen Museumsfriedhof. Hans Guggenberger, der Gründer, hat in Österreich und Bayern ein paardutzend, teilweise dreihundert Jahre alte, schmiedeeiserne Grabkreuze gesammelt und in einem kleinen Wald aufgestellt. Die Sprüche, die man auf den Kreuzen lesen kann, sind derb-herzliche Lebensgeschichten und zeugen vom urwüchsigen Volkshumor der Alpenländer. Ja, und dort habe ich einen ganz anderen ‚Einsatzroman‘ gelesen. Kurz und bündig. Ein Satz aus vier Wörtern, der ALLES erzählt.

Aufigschtieg’n, obagfall’n, hin gwös’n

Übersetzt: Hinaufgestiegen, heruntergefallen, tot gewesen.

Diese ‚Einsatz-Geschichte‘ begleitet mich seither und taucht immer mal wieder aus meinem Unterbewusstsein auf. Zeigt sie doch, dass nicht immer viele Worte nötig sind, um das Wesentliche auszudrücken. Der eigenen Fantasie sind dabei aber keine Grenzen gesetzt, wer will, kann sich die Geschichte selbst ausschmücken. Zum Beispiel so:

Ein Bauernhof. Es ist Spätsommer. Die Äpfel sind reif. Die Bäuerin hat acht Kinder, drei sind sterbenskrank, die Magd ist vorgestern abgehauen, mitten im Jahr. Der Bauer kommt vom Feld. Kein Essen auf dem Tisch, weil die Kinder kotzen und die Bäuerin zwischen Stall und Schlafkammer unterwegs war, den ganzen Tag. Jetzt steht er vor ihr, macht ihr Vorwürfe.

Sie schreit ihn an: „Mach’s dir doch selber, dein Essen, oder soll ich die Kinder deinetwegen verrecken lassen?!“

Er brüllt zurück: „Ich war ja auch den ganzen Tag auf dem Feld und hab geschuftet bis zum Umfallen!“

„Dann schneide dir halt einen Kanten Brot ab und was vom G‘sellchten dazu.“

Er geht.

„Und die Äpfel müssen geerntet werden, sonst faulen sie uns noch am Baum!“, schreit sie ihm nach.

Er isst Brot. Seine Wut ist noch nicht verraucht, als er hinaus in den Obstgarten geht. Die Leiter ist morsch, der vorletzte Tritt schon angebrochen. Er hätte sie längst richten müssen, aber das ist Arbeit für den Winter. Er nimmt sie und lehnt sie an den Baum. Steigt hinauf, den Jutesack hat er sich quer um die Schulter gehängt. Da hinein legt er die Äpfel. Er steigt weiter hinauf. Der Jutesack ist schon voll. Nur noch den einen Apfel dort drüben, bevor er hinuntersteigt, um den Sack zu leeren und die Leiter zu versetzen. Er reicht nicht ganz hin, steigt einen Tritt höher, vergisst, dass der Abtritt schon angebrochen ist. Es kracht, der Abtritt bricht, die Leiter kommt ins Wanken. Der Bauer greift hilfesuchend nach einem Ast, doch schon kippt er samt der Leiter zur Seite, erwischt ihn nicht mehr.

Die Bäuerin im Haus hört einen Schrei. Langgezogen, unheilverkündend. Sie geht zum Fenster, schaut hinaus, sieht ihren Mann dort liegen, rennt hinaus.

Als sie bei ihm ist, ist er schon tot. Drei Tage später trägt sie ihn zu Grabe, eins ihrer Kinder dazu – und die Äpfel faulen am Baum.

‚Aufigschtieg’n, obagfall’n, hin gwös’n‘, denkt sie bekümmert, als sie im Frühjahr auf der Bank vorm Haus sitzt und den Baum betrachtet, der jetzt wieder voller Blüten ist.

So könnte es gewesen sein. Vielleicht aber auch ganz anders. Unsere Phantasie kann diese ‚Einsatz-Geschichte‘ auskleiden, ganz nach Belieben …

Einsatzromane
Eine Grabinschrift, die alles sagt